Denken bis zum Äußersten (2024)

Rezensiert von Thomas Kroll·18.01.2006

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Vor 30 Jahren galt Emmanuel Levinas noch als Geheimtipp. Mittlerweise zählt der jüdische Gelehrte, der lange Zeit im Schatten von Jean Paul Sartre stand, zu den philosophischen Klassikern des 20. Jahrhunderts. Dank zahlreicher Übersetzungen gewinnt Levinas' umfangreiches Werk in Deutschland zusehends an Verbreitung und Einfluss.

Vor hundert Jahren wird Levinas am 12. Januar 1906 in Litauen als Sohn gläubiger jüdischer Eltern geboren. Von Kaunas führt sein Lebensweg in die Studienorte Straßburg und Freiburg i.Br. - "Ich bin zu Husserl gekommen und habe Heidegger gefunden" - sowie nach Paris. Dort bildet Levinas nach Abschluss seiner Studien jüdische Lehrer und Lehrerinnen aus. Dort lehrt er schließlich nach spätem Beginn seiner Universitätskarriere im Alter von 57 Jahren als Professor für Philosophie an der Sorbonne.

E. Levinas: "Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten zu werden."

Einem Menschen begegnen heißt, ihn als Anderen erleben, ent-decken, respektieren. Denn der Andere ist einzig und unverwechselbar; auf der Suche nach dem, was und wer er ist, versagen die üblichen Kategorien, die Schablonen des Denkens und die gewohnten Strukturen unseres Verstehens. Erst wenn man den Anderen, wie Levinas erklärt, gleichsam nackt und fremd sein lässt, bestimmt sich der Andere als Anderer von sich her.

"Und dieser Andere begegnet, wie Levinas' Ausdruck dafür lautet, als "Antlitz" (visage), als Verbot: "Du sollt mich nicht töten", und als Gebot: "Du sollst mich in meinem Sterben nicht alleine lassen"."

So gesehen ist der Andere - insbesondere für Philosophen - "die eigentlich metaphysische Störung". Im gleichnamigen Artikel sowie in neun weiteren unternimmt Christoph von Wolzogen den Versuch, die bzw. den Grundgedanken der Philosophie von Levinas herauszustellen. Dabei geht es dem Frankfurter Professor in erster Linie um den Aufweis einer grundsätzlichen Vorgängigkeit des Ethischen, die die eigentliche Quelle der Erfahrung des Menschlichen darstellt.

Von Wolzogens Ausführungen sind das Ergebnis rund zwanzigjähriger Auseinandersetzung mit dem Werk des Philosophen und Talmudlehrers, der trotz französischer Einbürgerung im Jahre 1930 seinen Namen im Angedenken seiner Herkunft stets ohne den üblichen Akzent notierte.

Zur Erinnerung: Autonomie, Gleichheit und Selbstverwirklichung stehen im humanistisch aufgeklärten Europa hoch im Kurs. Diesem Denken gemäß ist der Andere ein Gegenüber, ein Phänomen, eine Art Spiegel, mit Hilfe dessen der Einzelne, das Selbst, sich erkennt und zu sich findet. Diese Vorstellung, dieses Konzept traditioneller Philosophie, so von Wolzogen, stellt Levinas radikal in Frage.

"Dagegen setzt er seine andere Sicht des Anderen: "Eine Infragestellung des Selben - die im Rahmen der egoistischen Spontaneität unmöglich ist - geschieht durch den Anderen. Diese Infragestellung meiner Spontaneität durch die Gegenwart des Anderen heißt Ethik." Damit beabsichtigt Levinas keineswegs, eine neue, "Ethik" genannte Disziplin zu begründen, sondern Philosophie als solche wird als abgeleitete aus dem Bezug zum Anderen verstanden. Und deshalb erhält nun die Ethik den Rang einer "Ersten Philosophie"."

Wie kommt Levinas zu dieser neuen Perspektive? Was bewegt den Wegbereiter der Phänomenologie in Frankreich zur Entwicklung dieser Philosophie des extremen Humanismus, deren Exposé in der Bibel resp. im Talmud zu finden ist? Auch hier gewinnt man dank von Wolzogen ausreichend Antworten.

"Wenn es eine Lehre des Levinasschen Denkens gibt - und nach dem Talmud hat die Thora nur eine Lehre: Liebe deinen Nächsten; alles andere ist Interpretation -, dann ist es vielleicht die Lehre vom "kleinen Guten", der Güte, mit welcher man auch "unter einem leeren Himmel noch eine vernünftige und gute Welt" suchen kann ..., ohne der Tyrannei des "großen Guten " zu verfallen."

Keine Frage, dem Denken Emmanuel Levinas' sind die Spuren der conditio iudaica, der erlittenen Verfolgung und schließlich des Eingedenkens der Opfer der Shoah eingeschrieben. Als Jugendlicher hat Levinas die Russische Revolution und deren Folgen erlebt; ab 1940 war er fünf Jahre lang als französischer Kriegsgefangener interniert. Seine Frau und seine Tochter überlebten in einem christlichen Kloster bei Orléans; seine Eltern und sämtliche Verwandte in Litauen hingegen wurden durch Deutsche ermordet. Diese Erfahrungen haben sich einem Denken traumatisch eingeprägt, das die Inkarniertheit und Verletzlichkeit, ja Todesbedrohtheit des Subjekts in seinem Sein nicht vergessen kann.

"Am 25. Dezember 1995, dem Tag, an dem die christliche Welt das Fest der Liebe feiert, ist Emmanuel Levinas gestorben, ein Philosoph, der das alltägliche "Bitte nach Ihnen" bis zu den höchsten Höhen philosophischer Abstraktion steigerte, um es dem alltäglichen Menschen als Liebesweisheit (die Philosophie jedenfalls ihrem Namen nach ist) zurückzugeben."

Christoph von Wolzogen: Emmanuel Levinas - Denken bis zum Äußersten
Verlag Karl Alber: Freiburg 2005
231 Seiten, EUR 22

Denken bis zum Äußersten (2024)

FAQs

What is the motto of the Tractatus? ›

The Tractatus' motto (“whatever a man knows…can be said in three words.”) exemplifies that idea.

What does the world is everything that is the case mean? ›

The world is determined by the facts, and by their being all the facts. For the totality of facts determines what is the case, and also whatever is not the case. The facts in logical space are the world. The world divides into facts. Each item can be the case or not the case while everything else remains the same.

Are most propositions and questions that have been written about philosophical matters are not false but senseless? ›

“Most propositions and questions that have been written about philosophical matters are not false but senseless. We cannot, therefore, answer questions of this kind at all, but only state their senselessness.

What does Tractatus mean in English? ›

Tractatus is Latin for "treatise". It may refer to: Tractatus de amore by Andreas Capellanus. Tractatus Astrologico Magicus, also known as the Aldaraia and the Book of Soyga, a 16th-century Latin treatise on magic. Tractatus coislinianus, an ancient manuscript on comedy in the tradition of Aristotle.

What was Ludwig Wittgenstein's famous quote? ›

Nothing is so difficult as not deceiving oneself. I am my world. If people never did silly things nothing intelligent would ever get done. Only describe, don't explain.

What is the proposition 7 in Wittgenstein? ›

Proposition 7

It ends the book with the proposition "Whereof one cannot speak, thereof one must be silent" (German: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen).

Did Wittgenstein write in German? ›

Tractatus Logico-Philosophicus was first published in German in 1921 and then translated—by C.K. Ogden (and F. P. Ramsey)—and published in English in 1922.

What does Wittgenstein mean by the world? ›

When Wittgenstein says 1.1 The world is the totality of facts, not of things. he is not denying that there are things, in addition to facts.

Is philosophy just logic? ›

Logic, therefore, is essential to the practice of philosophy. But logic is not merely a tool for evaluating philosophical arguments; it has altered the course of the ongoing philosophical conversation.

What does it mean if we say that the question is philosophical? ›

The result is a definition of philosophical questions as questions whose answers are in principle open to informed, rational, and honest disagreement, ultimate but not absolute, closed under further questioning, possibly constrained by empirical and logico-mathematical resources, but requiring noetic resources to be ...

Is it true that philosophy is all about reasoning? ›

Answer. Philosophy can be described as a way of life based upon reason, and in the other direction reason has been one of the major subjects of philosophical discussion since ancient times.

What is the main idea of Tractatus politicus? ›

Its aim was "to liberate the individual from bondage to superstition and ecclesiastical authority." In it, Spinoza expounds his views on contemporary Jewish and Christian religion and critically analyses the Bible, especially the Old Testament, which underlies both.

What is the main idea of the Tractatus Logico-Philosophicus? ›

A central theme in Wittgenstein's Tractatus Logico-Philosophicus is that language demarcates the frontiers of meaning. As Wittgenstein famously states, “The limits of my language are the limits of my world.” In other words, whatever can be expressed in words constructs the boundaries of our knowable reality.

What is the last line of the book of Tractatus? ›

It ends the book with the proposition "Whereof one cannot speak, thereof one must be silent" (German: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen).

What is the significance of saying in the Tractatus? ›

Saying and Showing in the Tractatus

He aims at getting us to see the differences between what is describable in language and what cannot be so described (the essential) via saying and showing.

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Author: Allyn Kozey

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