Am 1.Mai beginnt mit der Thronbesteigung von Kronprinz Naruhito für Japan eine neue Ära. Wie ist die nun ablaufende Heisei-Ära zu bewerten?
Sebastian Maslow
Nach dreissig Jahren im Amt tritt Ende April Japans Kaiser Akihito den Chrysanthementhron an seinen Sohn Naruhito ab. Damit endet die Ära Heisei, was mit «Frieden schaffen» übersetzt werden kann. Ab dem 1.Mai gilt in Japan auch eine neue Zeitrechnung. Denn so wie in der westlichen Welt die Jahrhunderte den Lauf der Zeit in überschaubarere – wenn auch etwas willkürliche – Einheiten unterteilen, rechnen die Japaner in Ären, während deren ein bestimmter Kaiser auf dem Thron sass. Wer in Japan «Meiji» hört, weiss, dass es um die Zeit zwischen 1868 und 1912 geht. Mit der damals von aussen aufgezwungenen Öffnung des Landes begann die japanische Moderne.
Hoffnung auf eine bessere Zeit
Wenn Anfang Mai nun Naruhito den Thron besteigt, ist er erst der fünfte Tenno seither. Naruhitos Ära wird unter der Losung «Reiwa» stehen, was etwa «schöne Harmonie» bedeutet. Mit der Zeitenwende verbindet sich für viele Japanerinnen und Japaner die Hoffnung auf gesellschaftliche Erneuerung. Denn die dreissig Jahre der nun ablaufenden Heisei-Ära werden oft als «verlorene Jahrzehnte» dargestellt.
Im kollektiven Gedächtnis wird Heisei vor allem mit einer Spirale von Krisen in Wirtschaft und Politik sowie mit verheerenden Naturkatastrophen assoziiert. Dass in dieser Zeit die Bevölkerung des Landes massiv gealtert ist und mittlerweile zu schrumpfen begonnen hat, verstärkt den Eindruck von Stillstand. Doch dieser trügt: Seit 1989 hat sich Japan in vielen Bereichen fundamental gewandelt.
Die japanischen Kaiser der Moderne und ihre Ära-Namen
1868–1912: Meiji,was so viel bedeutet wie «aufgeklärte Herrschaft» unter KaiserMutsuhito, dem 122. Tenno.
1912–1925:Taisho,«grosse Gerechtigkeit», unter KaiserYoshihito
1925–1989: Showa,«erleuchteter Frieden»,unter Kaiser Hirohito
1989–2019: Heisei,«Frieden schaffen»,unter Kaiser Akihito
ab 1. Mai 2019: Reiwa,«schöne Harmonie», unter dem heutigen Kronprinzen Naruhito
Postum werden die Kaiser nach ihrer Ära benannt. So wird Hirohito, der Vater des abtretenden Kaisers, in Japan heute als Showa-Tenno bezeichnet. Im Ausland ist weiterhin Hirohito gebräuchlich.
Der Beginn der Heisei-Ära wurde als historische Zäsur wahrgenommen: 1989 starb Kaiser Hirohito, der das Amt 62 Jahre lang innegehabt hatte. In seinem Namen war die kaiserliche japanische Armee auf einen mörderischen Kriegszug durch weite Teile Asiens gegangen, und so ist seine Showa-Periode im kollektiven Gedächtnis vor allem mit Japans Kriegsschuld verbunden. Der Tod des Showa-Tennos symbolisierte gewissermassen das Ende der japanischen Nachkriegszeit.
Das Militär erhält eine neue Rolle
Doch 1989 war mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Kriegs auch weltgeschichtlich ein Bruch. In Japan wiederum löste dies eine Debatte um die Rolle des Landes in der Weltpolitik aus. Als globale Wirtschaftsmacht sollte Japan nun auch militärisch mehr Verantwortung übernehmen.
Ab der Kapitulation von 1945 war der Pazifismus der Grundpfeiler der japanischen Sicherheitspolitik. Festgeschrieben ist dieser in der Verfassung von 1946, in der Japan verspricht, keinen Krieg zu führen und auf eine Armee zu verzichten.
Unter dem Druck des amerikanischen Bündnispartners passte Japan seine Aussenpolitik ab den frühen 1990er Jahren verstärkt an. Trotz Bedenken wegen eines neuen japanischen Militarismus – vor allem in Nachbarländern, die unter dem japanischen Militarismus gelitten hatten – wollen vor allem konservative Politiker, dass Japan ein «normales» Land wird. Sie investieren zunehmend Geld und politisches Kapital in die Verteidigung. Und sie definieren die Rolle der Selbstverteidigungsstreitkräfte, wie Japans Armee offiziell heisst, neu.
Der erste Schritt des japanischen Militärs über die Landesgrenzen hinaus waren Uno-Friedensmissionen, an denen Japan seit 1992 teilnimmt. 2004 wurden dann japanische Truppen trotz fehlender Zustimmung der Uno an der Seite der USA in den Irak entsandt. Und seit 2014 erlaubt eine neue Interpretation der Verfassung, dass Japans Militär im Rahmen der kollektiven Selbstverteidigung auch Waffengewalt einsetzen darf, um Angriffe auf Bündnispartner abzuwehren.
Heute, am Ende der Heisei-Ära, ist Japan mit moderner Waffentechnik und einer aktiven Sicherheitspolitik der zentrale Partner der Vereinigten Staaten in Asien, vor allem im geostrategischen Wettbewerb mit China.
Politische Verschiebungen...
Parallel dazu kam es in der Heisei-Ära zu innenpolitischen Verschiebungen, die den Wandel in der Sicherheitspolitik erst ermöglichten. Um diese zu verstehen, muss man etwas zurückblicken, und zwar ins erste Jahrzehnt nach dem verlorenen Krieg. Ab diesem Zeitpunkt etablierten sich konservative Eliten an der Spitze des Staates, getragen vom wirtschaftlichen Aufstieg und von der vom Kalten Krieg diktierten Notwendigkeit einer sicherheitspolitischen Anbindung an Washington.
Der politische Modus Operandi manifestierte sich im sogenannten «1955-System»: Der regierenden konservativen Liberaldemokratischen Partei (LDP) standen die Sozialisten in der ewigen Opposition gegenüber. Verwoben in ein Dreieck aus Bürokratie und Wirtschaftsinteressen, konzentrierte sich die LDP auf Wachstum und Wohlstand.
Das «1955-System» war jahrzehntelang erfolgreich: Japan galt als ein leuchtendes Beispiel für eine erfolgreiche Industriepolitik. Eine breite Mittelschicht hatte Anteil am wirtschaftlichen Aufstieg – und war dadurch der Träger der konservativen Politik. Lebenslange Anstellung und steigende Löhne schufen ein auf Wachstum fixiertes Gesellschaftsmodell. Die Unternehmen waren die Säulen der Gesellschaft. Einen Sozialstaat gab es nicht, weil es ihn nicht brauchte. Dies prägte die zweite Hälfte der Showa-Ära.
...und soziale Umwälzungen
Doch kurz nach dem Amtsantritt Akihitos 1989 kam alles anders; in den frühen 1990er Jahren platzte die Wirtschaftsblase. Banken meldeten Konkurs an, und faule Kredite belasteten das Finanzsystem. Die Grenzen des japanischen Modells wurden schnell sichtbar, und Japan mutierte vom industriepolitischen Erfolgsmodell zum «kranken Mann Asiens». Unternehmen wurden umstrukturiert, Produktion und Serviceleistungen ins Ausland verlegt.
Die Politik antwortete mit neoliberalen Strukturreformen: Die Privatisierung öffentlicher Unternehmen und die Deregulierung des Arbeitsmarktes sollten für mehr Flexibilität, Wettbewerb und Eigenverantwortung sorgen. Das Resultat: Die soziale Mitte bekam Risse und wurde zunehmend ausgehöhlt. Der Graben zwischen Arm und Reich in der einst egalitären Gesellschaft weitete sich stetig.
Ein neuer Begriff fand Eingang in das Heisei-Narrativ: «kakusa shakai» – Differenzgesellschaft. In dem Land, in dem sich einst 90 Prozent der Bevölkerung als Teil der Mittelschicht sahen, leben heute 16 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, und noch viele mehr sind in prekärer Anstellung, das heisst temporär, Teilzeit, ohne ausreichende soziale Absicherung.
Das Vertrauen in den Staat geht verloren
Die wirtschaftlichen Probleme haben aber nicht allein das Heisei-Narrativ als Jahrzehnte der Krise hervorgebracht. Als Katastrophenjahr ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat sich 1995. Im Januar erschütterte ein schweres Erdbeben die Hafenstadt Kobe. Die Katastrophe forderte mehr als 6400 Menschenleben. Das Versagen lokaler und nationaler Behörden im Katastrophenmanagement war exemplarisch für die Krise des Staates.
Kobe machte klar: Die Exzesse des langen Baubooms waren auf Kosten nachhaltiger Städteplanung gegangen.
Im März des gleichen Jahres verübte die Aum-Shinrikyo-Sekte einen tödlichen Giftgasanschlag auf die Tokioter U-Bahn mitten im politischen Zentrum Japans. Zwölf Personen starben, Hunderte wurden verletzt, die ganze Nation stand unter Schock. Trotz dem massiven Polizeiapparat schaffte es das Land offenbar nicht, seine Bevölkerung zu schützen. Das Vertrauen der Japaner in ihren Staat war beschädigt.
Hinzu kamen Fälle systematischer Korruption, die weite Teile des politischen Systems erfassten. Das Monopol konservativer Politik in Form des «1955-Systems» geriet ins Wanken und kollabierte schliesslich 1993. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte verlor die LDP die Macht – wenn auch nur für zehn Monate.
In der Hoffnung auf ein Zweiparteiensystem, das wirklichen demokratischen Wettbewerb ermöglichen würde, wurde das Wahlsystem reformiert. Auch der bürokratische Apparat wurde umgebaut, um den Einfluss des Regierungschefs zu stärken. Statt zweier stabiler Blöcke entstand jedoch eine zersplitterte Parteienlandschaft. Viele Regierungen waren kurzlebig, allein zwischen 2006 und 2012 waren sechs verschiedene Ministerpräsidenten an der Macht.
Das alte System kommt zurück
2009 kam es erneut zu einem Regierungswechsel – doch dieser sollte sich als Anfang der Rückkehr zum alten System herausstellen. Zwei Jahre später, am 11.März 2011, brach die schwerste Krise der Nachkriegszeit über das Land herein: Beim Tohoku-Erdbeben und beim nachfolgenden Tsunami starben nicht nur 20000 Menschen, im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi kam es auch zur dreifachen Kernschmelze und damit zum schwersten Atomunfall seit Tschernobyl.
Das Krisenmanagement der damals regierenden Demokratischen Partei Japans (DPJ) war ungenügend. Der LDP gelang es, die DPJ für den Verlauf der Katastrophe verantwortlich zu machen und so davon abzulenken, dass es in Tat und Wahrheit die von ihr über Jahrzehnte verfolgte Energiepolitik und unzureichende Sicherheitsstandards waren, die zum Versagen des Staates geführt hatten.
Das Resultat: Der Glaube der Öffentlichkeit an politische Alternativen war zerstört. Eine gestärkte LDP legte ihre internen Faktionskämpfe bei und schloss ihre Reihen hinter Shinzo Abe. Seit 2012 kontrolliert die Partei wieder beide Kammern des Parlaments. Gleich lang ist Abe nun Ministerpräsident. Die Nationalkonservativen um Abe dominieren die politische Debatte, die parlamentarische Linke versank in der Irrelevanz. Die Tür für ein neues politisches System, die in den frühen Jahren der Heisei-Ära aufzugehen schien, hat sich wieder geschlossen.
Eine stille Revolution
Das mag alles sehr ernüchternd klingen – und dennoch waren die dreissig Heisei-Jahre keine verlorenen Jahrzehnte. Das Versagen des Staates nach dem Erdbeben in Kobe etwa gilt heute als Beginn einer Zivilgesellschaft in Japan. Aus spontaner Hilfe entstanden damals Nichtregierungsorganisationen, und heute gehören Bürger-Engagement bei Katastrophenhilfe und Wiederaufbau zur Normalität. Eindrücklich zeigte sich diese Eigeninitiative der Japanerinnen und Japaner nach der Dreifachkatastrophe von 2011.
Insgesamt war die Heisei-Ära geprägt von einem fundamentalen Wandel, auch wenn dieser häufig unspektakulär war. Soziale Sicherheit wich der neoliberalen Logik von Eigenverantwortung. Die daraus entstandene Verunsicherung ist der Nährboden für einen neuen Nationalismus und historischen Revisionismus. Politische Instabilität endete in einer Restauration konservativer Politik. Nun versprechen konservative Eliten um Ministerpräsident Shinzo Abe, ein starkes Japan wiederherzustellen. Die dunklen Stellen der Geschichte des Landes blenden sie aus.
Das grosse, bisher unerreichte Ziel dieser konservativen Restauration ist eine Revision der Verfassung. Diese ist den Konservativen ein Dorn im Auge, denn sie betrachten sie als ein von der amerikanischen Besatzungsmacht aufgezwungenes Dokument, das Japan daran hindert, sich voll zu entfalten.
Welche Rolle für den Kaiser?
Und hier kommt der Kaiser ins Spiel. Denn die Verfassung definiert die Rolle des Tennos bloss als Symbol der Nation. Dem Wirken des Kaiserhauses werden enge Grenzen gesetzt – eine politische Rolle hat die Monarchie nicht. Japans Konservative möchten das Kaiserhaus jedoch ins Zentrum eines restaurierten, starken Japan stellen. Sie wollen den Tenno formell als Staatsoberhaupt etablieren.
Dass dies nicht gelungen ist, hängt auch damit zusammen, dass der nun abtretende Kaiser Akihito bei diesen Plänen nicht mitspielte. Er legte den Fokus seiner Regentschaft auf die Aussöhnung mit den infolge des japanischen Militarismus geschundenen Völkern – was den Konservativen immer wieder missfiel.
Es ist das Vermächtnis Akihitos, dass es ihm gelungen ist, das Kaiserhaus über die Grenzen Japans hinaus zu rehabilitieren. Reisen nach China, das vom japanischen Militarismus erniedrigt und gepeinigt wurde, waren etwa starke Zeichen der Versöhnung.
Mit Besuchen in Japans Katastrophengebieten und Videobotschaften an die Bürger etablierte sich Akihito auch als Kaiser des Volkes. Mit seinem Wunsch, vorzeitig abzutreten, stiess er eine Diskussion über die Modernisierung des Kaiserhauses als Institution an. Auch dies widerspricht dem Restaurationsbestreben vieler Konservativer. Darum beschränkten sie das entsprechende Gesetz einzig auf den Rücktritt Akihitos. Auf künftige Kaiser ist es nicht anwendbar. Immerhin kennt das moderne Japan nun einen Präzedenzfall.
Ob der zukünftige Kaiser Naruhito die kleinen, stillen Modernisierungsschritte seines Vaters fortsetzen wird, ist ungewiss. Auch wenn er keine politische Rolle einnehmen darf, könnte er wichtige Akzente setzen. Etwa in der Debatte um eine weibliche Thronfolge.
Sebastian Maslow ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Tokio.
Patrick Zoll
Felix Lill
Patrick Zoll, Tokio
Michèle Schell