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Für den französischen Philosophen Emmanuel Lévinas war die Philosophie gleichbedeutend mit einem zutiefst humanistischen Denken. Dabei kritisierte er viele seiner Kollegen, die sich selbst zu Humanisten erkoren. Er misstraute dem Existentialismus eines Jean-Paul Sartre, weil seine Philosophie der Freiheit den eigenen Willensakt über alles andere stellt.
Ein Portrait von Klaus Englert | 11.01.2006
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Emmanuel Lévinas, 12.01.1906:
" Indem dieses Ich an den Tod des anderen mehr Aufmerksamkeit lenken kann als auf seinen eigenen Tod. Ich glaube, dass die Ethik die Erste Philosophie ist - wo das Sinnhafte erst beginnt. Das steckt nicht ganz in der Tradition der überlieferten Philosophie, wo man die Verantwortung für den anderen gerade aus diesem Für-sich-Sein deduzieren will. "
Für den französischen Philosophen Emmanuel Lévinas war die Philosophie gleichbedeutend mit einem zutiefst humanistischen Denken. Dabei kritisierte er viele seiner Kollegen, die sich selbst zu Humanisten erkoren. Er misstraute dem Existentialismus eines Jean-Paul Sartre, weil seine Philosophie der Freiheit den eigenen Willensakt über alles andere stellt. Desgleichen misstraute er Martin Heidegger, dem er vorwarf, mit dem Dasein zum wiederholten Male in der Philosophiegeschichte das Subjekt zu inthronisieren. In seiner unnachahmlichen Art antwortete Lévinas dem deutschen Lehrmeister: Das "Da-" des Daseins zeige nur an, dass ich den Platz eines anderen einnehme. Diese Kritik rührt an die Ursprünge eines jüdischen Denkens, das sich ständig von den quälenden Heimsuchungen eines Überlebenden umtreiben lässt: Warum ich? Warum konnte ich der Vernichtung entkommen?
Es ist nicht zufällig, dass Heidegger, den Lévinas noch 1931 in einer französischen Zeitschrift enthusiastisch feierte, zu den Profiteuren des Nationalsozialismus gehörte. Und der in Litauen geborene Jude Lévinas zu den Opfern. Im Jahr 1974, dem Todesjahr Martin Heideggers, schrieb er als Motto für sein Buch "Anders als Sein oder jenseits des Wesens":
Zum Gedenken an die uns Nächsten unter den sechs Millionen Getöteten durch die Nationalsozialisten, an die Millionen und Abermillionen Menschen jeglicher Religion und Herkunft, an die Opfer des gleichen Hasses des anderen Menschen, des gleichen Antisemitismus.
Den heutigen Leser macht es fassungslos, dass für Emmanuel Lévinas selbst der Schlächter und Massenmörder vor jeder moralischen Aburteilung eben dies ist: Der andere Mensch, der Nächste. In seinen Werken spricht Lévinas deswegen nur ganz nebenbei von den Gräueln der Menschheit, vielmehr spricht er von der fundamentalen menschlichen Existenzweise: Der ethischen Verfasstheit des Lebens, das grundlegend durch den Bezug zum anderen geprägt ist. Der traditionellen Philosophie wirft er vor, die Heteronomie menschlicher Existenz, das grundlegende Verhältnis zum anderen übergangen zu haben. In einem Aufsatz schreibt Lévinas:
Von ihrem Beginn an ist die Philosophie vom Entsetzen vor dem Anderen ergriffen, von einer unüberwindlichen Allergie. Aus diesem Grunde ist sie wesentlich Philosophie des Seins. Sie wird Philosophie der Immanenz und der Autonomie oder Atheismus . Die Philosophie, die uns übermittelt ist, reduziert nicht nur das theoretische Denken, sondern jede spontane Bewegung des Bewusstseins auf diese Rückkehr zu sich.
Emmanuel Lévinas ist davon überzeugt, dass der Subjektivismus - der in einer Philosophie der Freiheit, des Selbstbewusstseins und des Willens kulminiert - zu den Fehlentwicklungen der Philosophiegeschichte gehört. Umstandslos erklärt er die Philosophie zur "Egologie" und versucht, ihre Geschichte völlig anders zu erzählen. Mit einem ungewohnten Ursprung, der nichts mit ihren griechischen Anfängen gemeinsam hat:
Dem Mythos von Ödipus, der nach Ithaka zurückkehrt, möchten wir die Geschichte Abrahams entgegensetzen, der für immer sein Vaterland verlässt, um nach einem noch unbekannten Land aufzubrechen, und der seinem Knecht gebietet, selbst seinen Sohn nicht zu diesem Ausgangspunkt zurückzuführen.
Die "Geschichte" Abrahams ist vergleichbar mit dem Lebensweg des Philosophen Emmanuel Lévinas, der seit den frühen dreißiger Jahren seine litauische Heimat nicht mehr wiedersah. Es ist die Geschichte des jüdischen Daseins als Diaspora, Zerstreuung, Fremdsein, Heimatlosigkeit. Die Geschichte des Ahasver, des ewigen Wanderers. Deswegen kommt Lévinas nicht umhin, das Denken anders als in der abendländisch-christlichen Tradition zu verstehen. Und er schließt daraus: Jüdisches Denken heißt anderes Denken, heißt Denken des Anderen. In dem Sammelband "Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte", der in diesen Tagen erscheinen wird, erklärt Lévinas:
Die Sorge für den Anderen siegt über die Sorge um sich selbst. Genau das ist es, was ich ‚Heiligkeit' nenne. Unsere Menschlichkeit besteht darin, dass wir den Vorrang des Anderen anerkennen können. Die Sprache wendet sich immer dem Anderen zu, so als ob man gar nicht denken könnte, ohne sich bereits um den Anderen zu sorgen. (S. 173).
In dem Interview versteht Lévinas diesen Altruismus als das "Primäre des Menschen". Er fährt fort:
"Das ist der Durchbruch im Sein. Das ist nicht, dass der Mensch durch das Sein überwunden ist . Aber von Zeit zu Zeit wird dieser Egoismus überwunden. Es gab und es gibt Gerechte und Heilige. Ich meine, ich kann es auch anders sagen: Ich meine nicht, dass die Menschen alle heilig sind. Ich sage aber Mensch-Sein ist, die Heiligkeit verstehen. "
Der jüdische Philosoph Lévinas leitet daraus eine Kritik der Endlichkeit ab, die Heidegger als "Sein zum Tode" verstand:
"Es handelt sich nicht um das Verschwinden jeglichen Sinnes im Tod. Ich sage, das Verschwinden jeglichen Sinnes im Tod ist verschwunden im Menschlichen, insofern das Menschliche nicht ‚Sein zum Tode' ist, sondern die Sorge für den Tod des Anderen. "
Der französische Philosoph Alain Finkielkraut, der zusammen mit Benny und Bernard-Henri Levy in Jerusalem das "Institut d'Etudes Lévinassiennes" gründete, erkennt im Denken von Lévinas die "Philosophie eines Überlebenden". Finkielkraut ist davon überzeugt, dass Lévinas ein völlig neues Verständnis von Ethik und Humanismus entwickelte. Ein Verständnis, das sich aus den Erfahrungen eines Internierten und Exilierten ableiten lässt. Vielleicht lässt sich ja seine Philosophie in einer Frage aus "Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte" zusammenfassen: "Wie wäre eine Geschichte zu denken, die auch die Besiegten und Verfolgten einen gewissen gültigen Sinn verleihen könnten?" In einer seiner ganz wenigen Äußerungen zu den Massenmorden des 20. Jahrhunderts heißt es:
Was bedeutet schon die Herrschaft des Bewusstseins - oder das erste Aufleuchten des Geistes -, wenn nicht die Entdeckung der Leichen an meiner Seite und mein Erschrecken darüber, wie das Morden zum Teil des Lebens wird?
Emmanuel Lévinas teilte das Schicksal vieler aus Osteuropa in den Westen gekommener Juden. Etwa von Paul Celan und Peter Szondi, die man in Lager internierte und deren Familien ermordet wurden. Nach Kriegsbeginn nahmen deutsche Soldaten Lévinas in der Somme fest und deportierten ihn nach Deutschland. Dort wurde er 5 Jahre im Lager Fallingbostel bei Hannover festgehalten. Erst nach der Befreiung Frankreichs und der Rückkehr nach Paris, erfuhr er, dass litauische Soldaten, die in den Reihen der Wehrmacht kämpften, seine gesamte Familie im heimatlichen Kaunas erschossen hatten - seine Eltern und seine Brüder Boris und Aminadab.
Lévinas beendete daraufhin seine Universitätskarriere und engagierte sich als Leiter der "Ecole normale israélite orientale", die Französischlehrer für eine zionistische Vereinigung ausbildete. Seit dieser Zeit wurden für Lévinas die hebräische Bibel und der aramäische Talmud eine unversiegbare Inspirationsquelle, und bis zu seinem Tod 1996 gab er wöchentlich Seminare über den mittelalterlichen Bibel- und Talmudexegeten Rachi. Es folgten seine zahlreichen Talmud-Lektüren, die er auf den "colloques d'intellectuels juifs de France" vortrug. Der Band "Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte" macht deutlich, wie zentral für Lévinas der ökumenische Gedanke war. Wer weiß schon, dass der jüdische Philosoph regelmäßig an den römischen Castelli-Konferenzen teilnahm? Und dass er zusammen mit dem protestantischen Philosophen Paul Ricœur zu den Castel Gandolfo-Seminaren eingeladen wurde - unter der Leitung von Papst Johannes Paul II. Lévinas sah zwar die tiefen Gegensätze zwischen jüdischem und christlichem Glauben, und trotzdem war er tief von der Notwendigkeit ökumenischen Verstehens überzeugt:
"Also gibt es zwischen Judentum und Christentum eine Unmöglichkeit des Verstehens. Ontologisch sind sie verflucht, nie die Wahrheit zu verstehen. Das heißt, das, was man heute Ökumene nennt, das ist jene zweigesichtige Wahrheit. Jedenfalls, dass es eine fleischliche Wahrheit gibt und dass es eine geistliche Wahrheit gibt. Die Ökumene lehrt uns, dass es eine allgemeine Vernunft gibt. "
Emmanuel Lévinas bekannte in dem Interview, dass er sämtliche Aussagen des Neuen Testaments über das Verhältnis zum anderen unterschreiben könne. Wenn er hinzufügt, dass meine Freiheit durch meine Verantwortung für den anderen grundsätzlich begrenzt ist. Und dass nur unter dieser Voraussetzung Güte, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit entstehen, ist er ganz offensichtlich der gemeinsamen Wurzel von Judentum und Christentum nahe gekommen:
" Meine Auffassung des Judentums ist nicht, dass es von der Menschheit gesondert ist. Ich würde sagen, das Blut aller Menschen fließt durch die jüdische Wunde. "
Neue Bücher von Emmanuel Lévinas: "Die Unvorhersehbarkeit der Geschichte" (Alber Verlag, Freiburg).
"Gott, der Tod und die Zeit" (Passagen Verlag, Wien).
"Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philip Nemo" (Passagen Verlag, Wien).